Veröffentlicht am März 11, 2024

Zusammenfassend:

  • Sie haben ein Objekt geerbt und zweifeln an dessen Wert? Die Klärung folgt einem methodischen Prozess, keinem Ratespiel.
  • Eine seriöse Expertise basiert auf objektiven Kriterien wie Provenienz, Zustand und Materialanalyse, nicht auf subjektivem Gefallen.
  • Der Zweck des Gutachtens (z. B. Versicherung, Verkauf, Erbschaft) bestimmt die Art der Wertermittlung und kann zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.
  • Echtheitsmerkmale und handwerkliche Techniken sind für einen Experten oft wie eine lesbare Handschrift, die Fälschungen von Originalen trennt.

Ein altes Gemälde auf dem Dachboden, die goldene Taschenuhr des Großvaters in einer Schublade oder ein geerbtes Möbelstück, das nicht mehr zum eigenen Stil passt – viele Menschen stehen eines Tages vor der Frage: Ist das Kunst oder kann das weg? Der erste Impuls führt oft zu einer schnellen Online-Recherche oder der Suche nach einer Signatur. Man hört Ratschläge wie „Schau auf den Zustand“ oder „Lass es von jemandem anschauen, der sich auskennt“. Doch diese oberflächlichen Ansätze führen selten zu einer verlässlichen Antwort und kratzen nur an der Oberfläche eines komplexen Themas.

Als von der Industrie- und Handelskammer (IHK) öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Kunst und Antiquitäten kann ich Ihnen versichern: Der Weg zu einer belastbaren Aussage ist kein Mysterium, sondern ein klar strukturierter, methodischer Prozess. Es geht nicht darum, einen Preis zu *raten*, sondern darum, einen Wert anhand objektiver Kriterien herzuleiten und die Authentizität eines Objekts systematisch zu dekonstruieren. Die landläufige Meinung, eine Online-Schätzung sei ausreichend, greift oft zu kurz, denn die wahre Expertise liegt im Detail, das nur eine physische Untersuchung offenbaren kann.

Doch was unterscheidet ein echtes Gutachten von einer schnellen Schätzung? Was verbirgt sich hinter Fachbegriffen wie „Craquelé“ oder „Repoussé“? Und warum kann dasselbe Objekt für die Versicherung plötzlich mehr wert sein als für den Verkauf? Dieser Artikel führt Sie durch die exakten Schritte, die ein professioneller Gutachter unternimmt. Er befähigt Sie, den Prozess zu verstehen, die richtigen Fragen zu stellen und letztendlich eine fundierte Entscheidung über Ihr wertvolles Erbstück zu treffen.

Um Ihnen einen klaren Überblick über die Facetten einer professionellen Begutachtung zu geben, haben wir die entscheidenden Themen für Sie strukturiert. Der folgende Inhalt führt Sie von den Grundlagen des Ablaufs über die Kosten bis hin zu den spezifischen Details, die den Wert und die Echtheit eines Objekts definieren.

Vom ersten Blick bis zum Zertifikat: Der genaue Ablauf einer professionellen Kunstbegutachtung

Eine professionelle Begutachtung ist ein systematischer Prozess, der weit über eine oberflächliche Betrachtung hinausgeht. Auch wenn heute laut Branchenkennern mehr als 95 % der Schätzungen online durchgeführt werden können, stellt dies aus Expertensicht lediglich die erste Phase dar: die Vorabprüfung. In dieser Phase werden anhand von Fotos und Beschreibungen erste Einschätzungen getroffen, um die Relevanz für eine tiefere Analyse zu klären. Fällt diese positiv aus, beginnt die eigentliche methodische Prüfung, die in der Regel mehrere klar definierte Phasen durchläuft.

Nach der Terminvereinbarung und Klärung von Versicherungsfragen für den Transport oder den Besuch vor Ort erfolgt die Detailuntersuchung. Hierbei setzt der Sachverständige auf eine Kombination aus geschultem Auge und technischen Hilfsmitteln. Eine genaue Sichtprüfung unter verschiedenen Lichtbedingungen, der Einsatz von UV-Licht zur Aufdeckung von Restaurierungen und Lupen zur Analyse von Signaturen oder Materialdetails sind Standard. Jedes Merkmal, von der kleinsten Beschädigung bis zur feinsten Pinselspur, wird dokumentiert.

In manchen Fällen, besonders bei hoher Wertigkeit oder Zweifeln an der Echtheit, ist eine materialwissenschaftliche Analyse unumgänglich. Das Objekt wird dann an spezialisierte Institute weitergeleitet. Ein berühmtes Beispiel ist die Entlarvung des Kunstfälschers Wolfgang Beltracchi.

Fallstudie: Die Überführung Beltracchis durch das Rathgen-Forschungslabor

Das renommierte Rathgen-Forschungslabor in Berlin konnte nachweisen, dass der Fälscher Wolfgang Beltracchi für seine vermeintlich historischen Werke Titanweiß verwendete – ein Pigment, das zur angeblichen Entstehungszeit der Bilder noch gar nicht existierte. Zudem stammten die Holzrahmen vieler gefälschter Werke von Bäumen, die nachweislich zur selben Zeit am selben Ort gewachsen waren, was für Bilder unterschiedlicher Meister aus verschiedenen Epochen praktisch unmöglich ist. Diese objektiven, wissenschaftlichen Beweise waren entscheidend für seine Überführung.

Die finale Phase ist die Erstellung des Gutachtens. Hier werden alle Erkenntnisse in einer schriftlichen Expertise zusammengefasst. Diese enthält eine detaillierte Beschreibung des Objekts, eine Einordnung in kunsthistorischen Kontext, die Dokumentation des Zustands, eine fundierte Wertermittlung und bei Bedarf ein Echtheitszertifikat. Das Gutachten schließt oft mit konkreten Handlungsempfehlungen, sei es für eine Restaurierung, den Verkauf oder die versicherungstechnische Einstufung.

Vom „Craquelé“ bis zum „Repoussé“: Ein Glossar, das Ihnen hilft, mit Experten auf Augenhöhe zu sprechen

Die Welt der Kunst und Antiquitäten hat ihre eigene Sprache. Wer die wichtigsten Fachbegriffe kennt, kann nicht nur Gutachten besser verstehen, sondern auch gezieltere Fragen stellen. Ein zentraler Begriff bei Gemälden ist das Craquelé (oder Krakelee), das feine Netz von Rissen in der Farb- oder Lackschicht, das durch den natürlichen Alterungsprozess von Materialien entsteht. Es ist oft ein Indikator für das Alter eines Werkes, doch Vorsicht: Es kann auch künstlich erzeugt werden, um ein höheres Alter vorzutäuschen.

Die Unterscheidung zwischen einem authentischen und einem künstlich herbeigeführten Craquelé ist eine Kernkompetenz des Experten. Echtes Craquelé entsteht über Jahrzehnte durch die unterschiedliche Ausdehnung und das Zusammenziehen von Leinwand, Grundierung und Farbschichten. Es bildet ein organisches, unregelmäßiges Muster, dessen Risse oft der Pinselführung oder der Dicke der Farbschichten folgen. Künstliches Craquelé hingegen wirkt oft zu gleichmäßig und geometrisch und ignoriert die darunterliegende Struktur des Bildes.

Makroaufnahme eines Craquelé-Musters auf einem alten Ölgemälde
Geschrieben von Elena Brandt, Elena Brandt ist seit über einem Jahrzehnt als Expertin in einem führenden deutschen Auktionshaus tätig und kennt die Mechanismen des internationalen Kunstmarktes wie kaum eine andere. Ihre Spezialgebiete sind die Preisbildung bei Auktionen sowie die strategische Beratung für Käufer und Verkäufer.